Nachruf auf Ehrenpräsident Guy Stern

In Memoriam
Guy Stern – Nachruf von Barbara Mahlmann-Bauer

Überall in der westlichen Welt trauern Freunde, Kollegen und Kolleginnen, Weggefährten und mehrere Generationen ehemaliger Studierender um Guy Stern, der am 7. Dezember in West Bloomfield, Michigan verstorben ist. Er war einer der letzten Zeitzeugen des Holocaust und des amerikanischen Exils, mit internationaler Ausstrahlung und einer gleichbleibend aktuellen Mission im Kampf gegen Antisemitismus, Nationalismus und politischem Terror. Wir trauern um den passionierten Literaturwissenschaftler, enthusi astischen Hochschullehrer und um den sprachgewaltigen Anwalt für Verfolgte und der Holocaust education. Als Pionier der Exilliteraturforschung hat Guy Stern Thomas Mann, Walter Mehring, Hertha Pauli, Lotte Lenya und andere ältere Mitexilanten interviewt, ihre Werke im historischen Kontext analysiert und das methodische Rüstzeug für die Textinterpretation unter Berücksichtigung der unsicheren, von Gewalt bedrohten Lebensverhältnisse vorbildlich geschärft. Die stärkste „Waffe“ in seinem lebenslangen Projekt als Hochschullehrer und gefragter Redner bei Gedenkveranstaltungen in Deutschland, Österreich, Frankreich, Israel und den USA waren sein Humor und eine mit deutschen und amerikanischen Literaturzitaten gewürzte Schlagfertigkeit. Wie sehr vermissen wir sie, begleitet von Guys gewinnendem Lächeln!

Das größte Geschenk, das wir von Guy haben, ist seine Autobiographie Invisible Ink, aus der er in Marburg 1997 erstmals Vignetten vortrug. Das schönste Geschenk, das ihm und uns seine Ehefrau Susanna Piontek machte, ist ihre kongeniale Übersetzung Wir sind nur noch wenige, 2022 im Aufbau-Verlag erschienen. Mit seiner bewegenden Geschichte einer Hildesheimer Kindheit und der abenteuerlichen Überlebensgeschichte im Kopf, lesen sich Guy Sterns in mehreren Bänden publizierte Arbeiten über Schriftsteller und Künstler im amerikanischen Exil und ihre Werke wie eine Literaturgeschichte.1 Deren Dramaturgie ergibt sich aus den Überlebensgeschichten und Verlusterfahrungen Verfolgter. Mit „unsichtbarer Tinte“ sind ihr indes auch Günthers Ängste und das Glück des Geretteten eingeschrieben.

Guy Stern hat seine akademische Karriere als Zeugnis der Dankbarkeit für die Förderung durch die literarisch begabte Mutter und die politische Wachsamkeit seines Vaters bezeichnet: „Hätten meine Eltern weiterleben dürfen – sie wären stolz darauf gewesen, welchen Beruf ich ergriff und was ihre prägende Rolle dabei gewesen war“ (Wir sind nur noch Wenige, S. 122).
Günther Stern ist der einzige Überlebende aus einer jüdischen Familie in Hildesheim, der sich 1937 mit einem Visum und dank der geheimen Tätigkeit einer jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation in die USA retten konnte. Er verdiente sich das Geld für sein Studium der Romanistik und Germanistik in St. Louis als Hilfskellner, was seiner raschen Amerikanisierung als „Guy“ zugutekam. Er trat 1942 der U.S. Army bei, nahm als einer der berühmten Ritchie Boys, einer meist aus jüdischen Emigranten bestehenden Intelligence-Einheit, an der riskanten Landung der Alliierten in der Normandie teil und trieb nach dem alliierten Sieg durch geschickte Befragung inhaftierte Nazi-Größen zu entlarvenden Geständnissen. Über seine hochkarätige militärische Karriere und die vielen Abenteuer sprach Guy in den letzten Jahren am liebsten, besonders seitdem die „Heldentaten“ der Ritchie Boys international in Filmen und biographischen Portrtäts gewürdigt wurden und Guy 2017 für seinen tapferen Einsatz zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt worden war.

Als junger Dozent der Columbia University hielt Guy sein erstes Lessing-Proseminar. Es war wie eine Initiation. 1958 wurde er als Professor für Germanistik an die Denison University in Ohio berufen. Als Professor der University of Cincinnati gründete er 1969 mit Kollegen die internationale Lessing Society und hat jahrelang das Lessing Yearbook herausgegeben. Nach dreijährigem Wirken an der University of Maryland nahm Guy Stern eine Professur an der Wayne State University in Detroit an. Dort lehrte und forschte er vier Jahrzehnte lang. Als Gastprofessor u.a. in München und Frankfurt begeisterte er für die Exilliteraturforschung und Holocaust Studies zahllose Studierende und junge Forschende. Sie statteten ihrem Lehrer in Aufsätzen, die seine Methoden anwenden und seinen Geist atmen, in den Festschriften zum 65., 80., 90. und 100. Geburtstag ihren Dank ab.

Aufklärung, Sieg über Vorurteile, Kultivierung demokratischer Traditionen und Absage an Nationalismen und Totalitarismen, Respekt gegenüber Minderheiten und friedliche Koexistenz von Religionsgemeinschaften sind die Themen, für die Guy in seinen Literaturseminaren und in zahlreichen Vorträgen an amerikanischen und deutschen Universitäten Begeisterung geweckt hat. Dies sind auch Leitmotive in Guys Analysen von Dichtungen der Aufklärung und Weimarer Klassik, ebenso wie in seiner Erforschung der Zeugnisse deutschsprachiger Exilschriftsteller und Holocaust-Erinnerungsbücher. Mit diesen weltbewegenden Themen überbrückte er die Zeitspanne von Wielands und Lessings Wirken weit über die Jahre der Weimarer Republik hinaus. Guys Leitthemen – Aufklärung, Sieg über Vorurteile, schutzbedürftige Demokratie, Respekt und Toleranz – eröffnen uns neue Perspektiven auf die deutschsprachige Literatur- und Ästhetikgeschichte, in die besonders seit der Haskala die Erfahrungen jüdischen Lebens in der Diaspora eingeflossen sind. Guys Ansicht, dass Literaturgeschichte nur unter Berücksichtigung der politischen und ethischen Einstellungen der Autoren betrieben werden sollte, ist heute aktueller denn je zuvor.

In seiner Autobiographie Invisible Ink schreibt Guy, der „Durchbruch religiöser Toleranz im 18. Jahrhundert sei ein Ergebnis von Gotthold Ephraim Lessings Wirken, seinen Rettungen verkannter und verfolgter Intellektueller und seiner Freundschaft mit Moses Mendelssohn. Die Aufklärung in Deutschland sei mehr als nur der Weg zur Weimarer Klassik und Autonomieästhetik, in ihr beginne der lange Weg zur rechtlichen Gleichstellung der Juden im Habsburgerreich und in Deutschland. Guy entschied sich trotz emotionaler Widerstände für einen Abschluss in Germanistics und für eine Karriere in diesem Fach: Er hat‘s den Nazis gezeigt, dass sich ein jüdischer Intellektueller nicht aus der deutschen Kultur vertreiben lässt. Harry Hatfield regte Guys Dissertation über den Einfluss Henry Fieldings auf Wieland, Goethe und die Gattungsgeschichte des ‘Bildungsromans’ an. Die Dissertation, die 2003 wiedergedruckt wurde, offenbart Guys Liebe zur spanischen und französischen Literatur, zu Esprit und Humor der Romania. H.G. Adler, Jakov Lind und andere, deren Emigration und Überleben beinahe vereitelt worden wäre, bezeichnete Guy noch als „Kinder der Aufklärung, d.h. eines Zeitalters des Optimismus und des Fortschrittglaubens.

Nach Lessings Vorbild „rettete“ auch Guy Stern Werke von Exilschriftstellern, die in der neuen Welt kein Publikum fanden, ebenso die Tätigkeit jüdischer Hilfsorganisationen vor dem Vergessen, indem er ungedruckte Zeugnisse aus Archiven und Nachlässen ans Licht brachte. Hatten nicht die Exilschriftsteller ihre früheren Leidensgenossen ebenfalls literarisch gerettet – Karl Reinkowski Heinrich Heine, Peter Weiss Trotzki, Hermann Broch den todkranken Vergil? Die aufwendigste und glanzvollste Rettungsaktion gelang Guy 1999, als das Musical Kurt Weills Der Weg der Verheissung – ein utopisches Weltfriedensspiel mit Franz Werfels Text – in Chemnitz wiederaufgeführt wurde und bei dieser Gelegenheit ein Bürgerverein zum Neubau der Synagoge angeregt wurde.3 Anstöße dazu gaben Guys Freundschaft mit Weills bester Interpretin, Lotte Lenya, und die Kurt Weill Stiftung, dessen Exekutivkommittee Guy leitete.

Guys monographische „Rettungen“ kamen Intellektuellen zugute, die heute zum Kanon der Literatur- und Musikgeschichte gehören. Nur vier Beispiele seien genannt: Efraim Frisch, der Herausgeber des Neuen Merkur (1916-1925), Alfred Neumann, der Romancier und Drehbuchautor, dessen Hauptthema, Dämonie der Macht, heute so aktuell ist wie in den dreißiger Jahren, Hertha Pauli, deren Individualstil in ihrer polyglotten Anpassungsfähigkeit besteht, und Kurt Weill, wiewohl die zwei Letztgenannten nur noch auf Englisch schrieben. An diesen seinen Lieblingsschriftstellern, die Guy neu herausgegeben hat, rühmte er ihre Begabung, Brücken zu schlagen. Sie wurden seine Vorbilder als „Brückenbauer“ zwischen Kulturen und Kontinenten. Efraim Frisch, als ein Chr. M. Wieland der Moderne, entdeckte und förderte junge Schriftsteller. Alfred Neumann fühlte sich in Europa und Amerika ent- und verwurzelt zugleich.
Da seine „Beheimatung in Europa und Amerika“ sei, wolle er „Brücke sein, Aufklärer sein!“ Dies bedeute, „jungen deutschen Schriftstellern zu verhelfen, ins Weite zu gelangen.“4 Seitdem Hertha Pauli, die Leidensgefährtin Ödön von Horvaths, Walter Mehrings und Carl Fruchts, bekannte: sie liebe Brücken, zumal (wie sie schreibt) „im Exil, wo tiefere Abgründe zu überbrücken waren“, freundete sie sich mit dem Doktoranden Guy an.

Da er zu den jüngsten Exilanten gehörte, die in Germanistics Karriere gemacht haben, war Guy Stern den Kollegen bei der Entdeckung neuer komparatistischer, interdisziplinärer Forschungsfelder immer eine Spur voraus. Bevor es den Begriff „Migrationsliteratur“ gab, schlug er vor, die Kriterien, die er zur Auswertung der Literatur von Nazi-Opfern entwickelt hatte, auszudehnen auf die Literatur, in der überall in der Welt verfolgte Minoritäten und Migranten ihre alte Identität bewahren und eine neue auszuloten versuchen.

Guys pädagogischem Elan sowie der Zusammenarbeit mit prominenten Holocaust-Historikern und Rabbinern ist zu verdanken, dass das 1985 gegründete Holocaust Memorial Center in Farmington Hills/Mich. mittlerweile ein zukunftweisendes „Welt-Klasse-Museum“ ist. Es erfüllt den pädagogischen Auftrag glanzvoll, Menschen verschiedensten Alters, unterschiedlicher Herkunft und Bildungsgrade über den Holocaust zu informieren und sie zur Zivilcourage bei der Prävention von Genoziden zu ermutigen. Auch dem New Yorker Holocaust-Museum, dem Archiv des Leo Back Institute und dem National Holocaust Memorial in Washington stand Guy Stern beratend zur Seite.

Guy Stern war seit 1945 häufig in Deutschland zu Gast. Er hat mit deutschen Schülern über den Holocaust diskutiert und ihnen die Erinnerungsbücher Überlebender nahegebracht. 1998 hielt er vor dem Deutschen Bundestag die Rede zum Gedenken an die Pogromnacht im November 1938. Als er im Mai 2019 vor dem Bayerischen Landtag anlässlich des Jahrestags der Befreiung seine Sorge um den Erhalt der Demokratie, „das zarte Pflänzchen“, offenbarte und dabei an das Gewissen der in der jungen Demokratie Aufgewachsenen appellierte, erhielt er besonders von den anwesenden Schülern begeisterten Beifall. Erst wenige Jahre vor seinem Tod beantragte er zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit, da er in Amerika das von ihm so genannte zarte Pflänzchen in Gefahr sah und sich absichern wollte.

Was Kurt Hirschfeld über hellsichtigen Talentejäger Efraim Frisch sagte, trifft auf Guys Wesen als Forscher und Sohn jüdischer Hildesheimer glänzend zu: Sein „Jude-sein“ „bestand in einer Form der Geistigkeit, die aus jüdischem Wissen sich gebildet hatte, und in einem Rechtssinn, in einem Glauben und in einer Erkenntnis von der gegebenenen und selten realisierten Gerechtigkeit. Es bestand aber vor allem in einem Gefühl der radikalen Verpflichtung allen geistigen Werten gegenüber …“5

Guy Stern, wir danken dir und bewahren dein Andenken in unseren Herzen.

Barbara Mahlmann-Bauer (Bern)

 

1 Die jüngsten zwei seien hier angeführt. Guy Stern: Literatur im Exil. Gesammelte Aufsätze 1959-1989. München 1989; Guy Stern: Literarische Kultur im Exil – Literature and Culture in Exile.Dresden 1998.

2 Guy Stern: Invisible Ink, a memoir. Wayne State University Press 2020, S.4.

3 Guy Stern: Die Via dolorosa endet in Chemnitz, in: Helmut Loos/ Guy Stern (Hg.): Kurt Weill – Auf dem Weg zum „Weg der Verheissung“. Freiburg 2000 (Rombach).

4 Stern: Literatur im Exil, S. 257 und 261.

5 Guy Stern (Hg.): Zum Verständnis des Geistigen. Essays von Efraim Frisch. Darmstadt 1963, S. 277.

 

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