Nachruf Fred Kurer (1936-2021)
Am 16. Juni 2021, kurz nach seinem 85. Geburtstag, ist Fred Kurer zu Hause in St.Gallen im Kreis seiner Familie gestorben. Seine Angehörigen, seine Freund*innen, Kolleg*innen und unser PEN-Zentrum verlieren einen liebenswerten Menschen, dessen Humor, Schalk und Charme den Gegenpol bildeten zu seiner Ernsthaftigkeit und philosophischen Tiefgründigkeit. Wir verlieren einen begabten Lyriker, einfallsreichen Übersetzer, einen Autor mit langjähriger Theatererfahrung, dessen Lesungen und Bühnenprogramme stets ein Genuss waren. Unser PEN-Zentrum verliert zugleich einen sehr engagierten Mitstreiter der Writers-in-Prison-Gruppe.
Fred Kurer, 1936 geboren in St.Gallen, aufgewachsen in Ebnat-Kappel, wo er später zwei Jahre als Lehrer tätig war, ist immer wieder nach St.Gallen zurückgekehrt: aus Ebnat-Kappel ebenso wie aus den entferntesten Winkeln des Globus. Schon das Studium der Germanistik, Anglistik, Publizistik und Theaterwissenschaften, das er mit dem Doktorat abschloss, hatte ihn nach Zürich, Wien und London geführt. Später unterrichtete er in St.Gallen an verschiedenen Schulen Deutsch, Englisch und Theater. Zudem war er als Journalist tätig. 1967 bis 1974 war er künstlerischer Leiter der Kellerbühne St.Gallen. Neben dem eigenen Schreiben hat Fred Kurer übersetzt, aus dem Englischen, dem Amerikanischen und dem Niederländischen. Zu seinen Lieblingsautor*innen gehörten Joseph Conrad, Bruce Chatwin, V.S. Naipaul, Emily Dickinson und Toni Morrison sowie Giorgios Seferis.
Fred war «seiner» Stadt treu, ist ihr aber als grosser Reisender auch sehr oft entwischt. Im kleinen Zyklus «Aufgabensammlung für angehende Lyriker» lesen wir schmunzelnd:
schreib ein zutiefst tragisches gedicht
dein ewiges fernweh betreffend und
deine geworfenheit
schreib wie ausgerechnet du
geboren werden musstest
inmitten einer von bergen umstandenen welt
ausgerechnet du
mit deiner seefahrenden seele
geh in die klosterkirche st.gallen
schäme dich deiner lächerlichen wehleidigkeit
Im Laufe seines Lebens hat Fred Kurer sämtliche Kontinente (mit Ausnahme der Antarktis) bereist, von Lappland bis Marokko, von der Türkei bis in den Fernen Osten, Australien bis Patagonien. In letzter Zeit zog es ihn oft in vom Tourismus noch nicht überschwemmte Regionen Mittel- und Osteuropas. Die Einreise nach Transnistrien sei kompliziert gewesen, klagte er nebenbei.
Die Jahresendbriefe, die Fred und seine aus Holland stammende Frau Annemarie verschickten, oft auf rotem Papier, waren eigentliche Itinerare. Auch Holland wurde regelmässig besucht, wo die beiden mit den zwei Töchtern und später den sieben Enkelkindern die Strände genossen und wo Fred auch mit 84 Jahren Velotouren machte.
Noch dieses Jahr war eine Reise durch Norditalien, Slowenien und Österreich geplant. Viele Reisen der letzten 30 Jahre hat er zusammen mit seinem Freund Richard Butz gemacht – zu den abenteuerlichsten gehörten die mehrmonatigen Aufenthalte im Outback Australiens in den 90er und Anfang der Nullerjahre, damals ohne GPS, ohne Handy oder Funk, ausgerüstet nur mit einem speziellen Reiseführer, Karten und einer Signalrakete für den Notfall. Familie und Freunde mussten sich damit abfinden, die vereinbarten Lebenszeichen von Fred und Richard geduldig zu erwarten.
Auf seinen Reisen hat sich Fred Kurer vollgesogen mit Eindrücken, die er uns Lesenden in literarischer Form wieder zu schenken wusste. Er ist Autor eines Romans, vieler Gedichtbände, von Bühnencollagen, Theaterstücken sowie Programmen für Kleintheater, Kabarett, Radio und Fernsehen. Eine schwere gesundheitliche Krise hat er in das eindrückliche Theaterstück Mit beiden Beinen verwandelt, das 2018 in St.Gallen auf die Bühne kam.
Von seinen Reisen zeugen die Titel mancher Bücher: Briefe aus der Finca / Letters from a Friend’s House (1991), Kreta und Unser Verschwinden in Australien (beide 1996). Vom Freds weitem Horizont zeugen viele Texte in seinem Lyrikband ich möchte nicht nur vogel sein – Gedichte 1956-2016, den ich als «Best of Fred» 2016 im Waldgut Verlag herausgegeben habe: Da sind etwa die Texte Austriakisch, Kreta, Zwischenfall in Marokko, Trekking in Schottland im Kapitel «Kleine Abstecher» zu finden. Im Kapitel DOWN UNDER hingegen glaubt man die Hitze Australiens beim Lesen zu spüren – aber auch die philosophische Demut des Autors beim nächtlichen Sitzen unter dem immensen und doch sehr nah scheinenden Sternenhimmel oder im Angesicht der Sonne:
WEBB DESERT
Der Grad von Nichtsein
Ist wichtig
Leer dazusitzen
In der Wüste
In der Sonne
Das Feuer empfangen
Das ist der Weg
Noch einmal
Eine aussergewöhnliche Welt zu
Reparieren
Sitzen
Ganz still
Ganz still sitzen
Nur ganz
Entfernt noch
Mensch
Doch auch die Heimat war immer wieder ein Thema, der Säntis und der bäuerliche Grossvater, die «Bäderwelten» am Bodensee (und im Ausland). St.Gallen & andere Liebschaften lautet der Titel eines Lyrikbandes von 2008. Fred hat auch Texte in St.Galler Mundart geschrieben, Texte, in denen sein Humor funkelt und zugleich seine Bescheidenheit sich zeigt. Von Selbstironie zeugte schon der Titel seines ersten Gedichtbandes epigonale strofen (1959).
In der 2016 erschienenen «Ovid-Anthologie» unseres PEN-Zentrums war Fred Kurer mit einem verschmitzten Text vertreten, worin er dem verbannten Ovid persönlich begegnet.
Fred hat sich auch verdient gemacht als eigenwillig einfallsreicher Übersetzer des ersten Lyrikbandes von Gabrielle Alioth, den ich 2019 unter dem Titel The Poet’s Coat / Der Mantel der Dichterin im Waldgut Verlag herausgegeben habe. Die Zusammenarbeit zu dritt war für uns alle eine Bereicherung. Die Lesungen in Winterthur, St.Gallen und Basel fanden Anklang. Mit diesem Band machten Gabrielle und Fred im Herbst 2019 eine Lesereise in Irland, wo sie an der Universität Limerick, am University College Dublin und in der Schweizer Botschaft in Dublin lasen.
Ich habe einen guten, langjährigen Freund verloren. Wir alle verlieren einen interessanten Autor und einen engagierten Mitmenschen.
Am 24. November 2021 findet auf der Kellerbühne St.Gallen eine grosse Gedenkveranstaltung statt, organisiert von Freds Freund Richard Butz.
Im Frühjahr 2022 erscheint im Caracol Verlag eine zweisprachige Auswahl von Gedichten aus Freds Lyrikbänden, ins Italienische übersetzt von Christoph Ferber. Ein kleiner Zyklus von Dialektgedichten wurde zudem vom Tessiner Lyriker Aurelio Buletti in Tessiner Dialekt übertragen.
Irène Bourquin